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Zug um Zug

Bedächtig dreht Stephan die Espressotasse in seinen Händen und stellt sie auf der Untertasse ab, schiebt sie leicht von sich und reibt sich die Müdigkeit aus dem Gesicht. Einerseits ist er völlig erschöpft und andererseits vermisst er bereits jetzt die Ekstase, wenn der erste Zug bevorsteht, das Ticken und das Klackgeräusch, wenn die Uhr gedrückt wird. Und das Kribbeln, wenn man einen Fehler gemacht hat und hofft, der Gegner übersieht ihn.

Nach der Geburt der Zwillinge vernachlässigte er das Spiel und nun, nach dem ersten Turnier seit langem, beherrscht der Kampf um den König erneut seine Gedanken und Träume. Selbst den Schlaf bestimmen die vierundsechzig Felder. Mit dieser Erkenntnis richten sich seine Nackenhärchen auf und er erschaudert. Es ist wie eine Sucht, die einen nicht loslässt.

Mit Handzeichen verabschiedet er sich vom Barista und verlässt das Hotel. Die Sonne steht hoch zwischen den Häusern. Die Abfahrt des Zuges ist in einer halben Stunde. Das Taxi zum Bahnhof wartet bereits vor dem Hotel auf ihn.

›Immer am Ende der Welt‹, tanzt der Spruch seines Vaters durch seine Gedanken. Wie oft hatte er ihn gesagt? Und meist zu Recht. Die Jugend sitzt im Kampf um Titel in Turnhallen von Schulgebäuden oder Stadthallen. Zuschauer finden sich selten. Selbst jetzt sind nur Spieler, Trainer und Fachpresse anwesend.

Nachdem der Rollkoffer seinen Platz im Kofferraum gefunden hat, landet die Umhängetasche leise klappernd neben ihm im Fond das elfenbeinfarbenen Mercedes.

Der Fahrer blickt Stephan kurz über den Rückspiegel an, dann ertönt das Klickgeräusch des Blinkers und das Auto fährt los.

»Ein erfolgreiches Wochenende gehabt?«

»Ja.« Stephan schaute demonstrativ auf sein Notizbuch. Das letzte Spiel war nicht gut gelaufen, nach einem größeren Patzer hatte er sich nur mit Mühe in ein Remis retten können.

»Waren Sie geschäftlich in der Stadt?«

»Nein.« Warum konnten sich Taxifahrer den Smalltalk nicht einfach verkneifen?

Stephan lehnt sich zurück und schließt die Augen. Die letzten drei Tage sind anstrengend und ertragreich zugleich gewesen. Eine Achterbahn der Gefühle. Genau das, was den Reiz des Turniers ausmacht. Dazu anregende Gespräche und eine Menge Blitzpartien. Neue Kontakte hatten sich ergeben, Schwächen und Stärken wurden analysiert und die Hoffnung, seinen Zwillingen zum Geburtstag das erdachte Geschenk mitzubringen, hatte sich erfüllt. Stephans Hand fährt über die Umhängetasche, in der sich zwei Päckchen befinden. Morgen haben Lisa und Leon Geburtstag. Der Gedanke an die leuchtenden Augen seiner Kinder malt ein Lächeln in Stephans Gesicht.

»Wir sind da. Das macht sechsundzwanzig Euro fünfundachtzig.«

Stephan hält dem Fahrer dreißig hin.

»Stimmt so.«

Der Rollkoffer ist nicht allzu schwer, das Gleis schnell gefunden und der ICE fährt mit wenigen Minuten Verspätung ab.

Eine kurze Nachricht an seine Frau Anja, während das Notebook startet.

Knapp vier Stunden Zeit, bevor ihn der Familienalltag wieder hat.

Ruhige Klaviermusik über Kopfhörer blendet die Geräusche im Zug aus. Konzentriert liest er sich durch Analysen und Spielkritiken.


Am Bahnhof warten bereits seine Eltern mit dem Kombi auf ihn.

»Hast du großartig gemacht. Und der Turmverlust wäre mir auch passiert.

Zeig mal her«, deutet sein Vater auf die Tasche.

Surrend geht der Reißverschluss auf.

»Ah, da war Nervennahrung nötig«, scherzt die Mutter und nimmt die Verpackungspapiere auf Seite.

Stephan zieht die beiden Stoffbeutel heraus, öffnet die Kordel des einen, Vater die des anderen.

»Die sehen wieder wie neu aus.«

Vaters Hand streicht über das frisch geölte Holz: »Ich weiß noch genau, wie dein Großvater mir den zu Weihnachten geschenkt hat. Dein Onkel Robert hat die ganzen Feiertage über keine Ruhe gegeben, bis deine Großeltern eingewilligt haben, gleich morgens am siebenundzwanzigsten ein weiteres Spiel für ihn zu kaufen. Von dem vorher heiß ersehnten Spielzeugkran wollte er nichts mehr wissen.«

Stephan kennt die Geschichte jenes Weihnachtsfestes in den siebziger Jahren nahezu auswendig. Es markiert den beginnenden Wettstreit und gleichzeitig den Start einer tiefen Leidenschaft beider Brüder. So unterschiedlich beide sind, so verschieden ist auch ihr Spiel: Vaters Verteidigung steht solide, einen Stellungskampf kann er gut für sich entscheiden, während Onkel Robert aggressiv Raum erobert und bereits nach den ersten Zügen versucht, Figuren zu gewinnen. Stephan hatte früh von beiden Stilen profitiert. Großvater Johannes hatte zunächst in beide Söhne und später in Stephan die Hoffnung gesteckt, einen erfolgreichen Profi und Großmeister in der Familie zu haben, doch so viel Zeit fürs Training und Coaching durch Schachgrößen hatten sie sich alle drei nicht erlauben können. Stephan hofft, dass dies die bevorstehende Geburtstagsfeier nicht belastet. Insgeheim hat Großvater Johannes noch immer die Erwartung. Obwohl Stephan einiges mit den Schachpartien in der Liga verdient, reicht es nicht, um eine Familie zu ernähren oder gar die nötigen Renovierungen im Haus zu bezahlen. So bleibt es ein Hobby, mit dem sich etwas dazuverdienen lässt und das regelmäßig auf allen Familienfeiern Beachtung findet. Mit den beiden restaurierten Kästen hätten sie genug Bretter, um Simultanpartien zu spielen und Opa Johannes bei Laune zu halten.

»Das wird schon«, klopft ihm sein Vater auf die Schulter, als könne er Stephans Gedanken lesen, der ein Gähnen nicht unterdrücken kann

»'tschuldigung.«

»Lange Nächte?«, fragt die Mutter, während sie einsteigen.

»Ja, ich muss wohl Schlaf nachholen. Und einige Patzer analysieren. Aber erst erzählt ihr mir auf der Fahrt vom Zoobesuch mit den beiden Lümmeln.«

»Na na na, die waren ganz artig. Die Löwen haben sie besonders fasziniert. Und die Pinguine.«

»Das ist toll. Die mag ich auch.«

»Lisa hat Fotos gemacht und dann dein Bild entdeckt, wie du nachdenklich guckst.«

»Ja, an meinem Pokerface sollte ich wohl auch noch arbeiten.«

Mutter lachte auf: »Das solltest du wohl und vor allem deine Gedanken vom Brett lösen und genug schlafen.«

»Letzteres ist nicht so schwierig, aber das Schachspiel werde ich wohl auch im Traum nicht lassen können. Wie lief es mit Großvater?«

»Ganz gut. Er hat sich natürlich jede Partie angesehen. Und an jeder Stellung gleich herum gemosert. Auch wenn er sich kaum die Namen seiner Urenkel merken kann, Schach kann er noch.«

»Das wird er wohl bis zum letzten Atemzug«, scherzt Stephan.

Im Licht der tief stehenden Sonne warten Anja und die Kinder vor dem Haus auf den ankommenden Wagen.

Mit einem Mal kommen Stephan Zweifel, ob er seinen Kindern die »Sucht« zumuten soll. Dieses Päckchen ist nicht immer so leicht zu tragen, wie der Kasten des Spiels. Doch was, wenn sie nicht durch ihn, sondern durch andere oder selbst zum Spiel fänden? Und warum soll er ihnen diese wunderbare Erfahrung, die ständig neuen Facetten vorenthalten? Nein, er zog die Figuren lieber mutig nach vorn, als sich zu verschanzen.

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Karla Schulz

Wer ich bin? ich bin Karla, geboren Anfang der '80er Jahre in der grünen Mitte Deutschlands, interessierte ich mich früh für Texte und fürs Schreiben.
Inspiriert zunächst von Größen wie Michael Ende und Astrid Lindgren, später von Wolfgang Holbein, John Grisham und Stephen King, kam bereits in der Grundschule der Wunsch nach einer Schriftstellerkariere auf. Doch mit Ende der Schullaufbahn verlor sich das Schreiben und die Buchstaben kamen erst 2016 wieder im meinen Alltag zurück. Und seither sind sie geblieben.